Shiatsu in einer Institution für Menschen mit Behinderung
Mit Berührung Ruhe und Sicherheit schenken
Während der Pandemie war in vielen Institutionen der Kontakt der Bewohner-/Innen mit der Aussenwelt sehr eingeschränkt. Um dem wachsenden Bedürfnis nach Berührung entgegenzukommen, entstand im Arbeits- und Wohnzentrum in Kleindöttingen die Idee, Shiatsu anzubieten.
Das AWZ und wie alles begann:
100 Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung erleben im AWZ in Kleindöttingen AG täglich Lebensqualität beim Wohnen und bei der Arbeit. Sie werden in ihrer Entwicklung begleitet und ihr Potenzial und ihre Selbständigkeit werden gefördert. In einem flexiblen und möglichst selbstbestimmten Rahmen können sie sich verwirklichen und an Autonomie gewinnen.
Mit einem kurzen Film wurde den BewohnerInnen Shiatsu nähergebracht und sie durften sich anschliessend melden, wenn sie an einer Behandlungsserie interessiert waren. Unterstützt wurde das Vorhaben auch finanziell: bei BewohnerInnen ohne Zusatzversicherung sprang die Stiftung ein und bezahlte die Behandlungen. Rund 25 Frauen und Männer liessen sich offen und voller Freude auf das Shiatsu-Experiment ein.
Die Begegnung
Ein bisschen Nervosität war schon da vor dem ersten Kontakt, denn bis anhin hatte ich keine direkten Begegnungen mit Menschen mit einer Behinderung gehabt. Was gab es da wohl Besonderes zu beachten, wie würde ich auf die Menschen eingehen können und wie ihnen Shiatsu näherbringen? Ich hatte für diesen Einsatz keine speziell ausgerichtete Weiterbildung besucht.
Die Erfahrung kommt mit dem Tun. Mit offenem Geist und Herzen begrüsse ich die ersten BewohnerInnen und werde mit ebensolcher Offenheit belohnt. Auch für sie ist es Neuland, und die meisten lassen sich auf das «Abenteuer Shiatsu» ein.
Bei jeder neuen Behandlung sind die Gegebenheiten wieder anders, und eine Unterhaltung über das jeweilige Wohlbefinden ist in der Regel schwierig. So lenke ich das Gespräch bei der Begrüssung auf ein positives Geschehen im Alltag, wodurch ich die Person besser kennenlernen kann.
Zur Vorbereitung auf die Behandlungsserie wird von der Bezugsperson ein kurzes Anamnese-Frageblatt ausgefüllt. Die BewohnerInnen kommen alle zwei Wochen zur Behandlung. Inzwischen freuen sie sich sehr, wenn Shiatsu auf dem Tagesprogramm steht, denn für viele ist eine Stunde uneingeschränkte Aufmerksamkeit das grösste Geschenk. Auch untereinander erzählen sie sich, wer ins Shiatsu geht.
Erfahrung mit den Behandlungen
Die Behandlung gestaltet sich oft sehr kreativ. Es braucht eine starke Präsenz und Konzentration meinerseits, um mit dem, was sich im Jetzt zeigt, auf die KlientInnen einzugehen. So kann es durchaus sein, dass jemand zu Beginn ganz viel zu erzählen hat und sich erst danach auf die Behandlung einlassen kann.
Die meisten KlientInnen können in der Regel mitteilen, wenn etwas schmerzt, die Art des Schmerzes jedoch nicht beschreiben. Auf jeden Fall ist Gelassenheit und viel Geduld erforderlich, um dem Gegenüber die Möglichkeit zum Nachdenken und Antworten zu geben.
Auch gibt es viele, die klar signalisieren, wenn ihnen etwas gefällt, mit «mach weiter», «bleib da» oder «hier hinten noch massieren» – oder, wenn ihnen etwas nicht gefällt, mit «was machst du da», «das ist komisch». Dann bin ich gefordert, spielerisch den Zugang zum Meridiansystem zu finden.
Wer bestimmt das Tempo?
Joelle hat meist einen sehr tiefen Tonus und scheint allgemein wenig Energie zu haben. Sie hat das Down-Syndrom, ihre Schwachstellen sind das Herz, die Fussgelenke und die Sehkraft. Dies erklärt, dass sie sich sehr langsam bewegt. Meist kommt sie eher kribbelig, mürrisch und nervös in die Behandlung.
Auch wenn ich versucht sein könnte, Joelle während der Behandlung zu aktivieren und zu beleben, passe ich mich ihrem Tempo an, und wir gehen gemeinsam, Schritt für Schritt in ihrem Rhythmus voran. Während der Behandlung schläft sie manchmal tief ein und braucht danach eine Weile zum Wachwerden. Im Anschluss sitzt sie manchmal ganz benommen da, vielleicht ist ihr auch etwas schwindlig. Deshalb lasse ich ihr viel Zeit zum Ankommen und leite sie an, wie sie sich wieder im Körper verankern kann. Oft lässt sie mich dann wissen, dass sie glücklich sei und die Behandlung ihr gutgetan habe. Sie zeigt sich berührt und entspannt und strahlt über das ganze Gesicht. Joelle hat die Fähigkeit, ganz stark im Moment zu sein und diesen zu geniessen, was auch ihre Begleitperson bestätigt.
Wozu Shiatsu?
Chris fragt mich während der Behandlung, wozu Shiatsu eigentlich gut sei. Ich bin überrascht über diese Frage, war doch – für mich – offensichtlich wie er im Shiatsu loslassen und entspannen konnte. So erkläre ich es ihm mit einfachen Worten und bin gespannt, was er selbst am Ende der Stunde zur Wirkung sagen wird. Seine wunderbare und bezeichnende Rückmeldung am Schluss ist: «Ich fühle mich nicht plemplem, alles ist in Ordnung!»
Bei einigen Menschen zeigen sich auch klare Themen, und die daraus folgenden Behandlungsziele, wie schmerzgeplagte Körperstellen wieder ins grosse Ganze einbinden, ruhiger werden und Entspannung finden, können verfolgt werden. Dabei spielt die Förderung der Körperwahrnehmung und des Körperbewusstseins eine zentrale Rolle.
n einer Krisenzeit, wie wir sie mit der Pandemie erlebt haben, brauchen Menschen verstärkt Berührung, um sich beruhigen und wieder ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit entstehen lassen zu können. Die achtsame Berührung im Shiatsu trägt dazu bei, dass sich die BewohnerInnen im eigenen Körper wohlfühlen und auch harmonisch miteinander in der Wohngemeinschaft leben können.
Nach rund einem halben Jahr findet ein Austausch mit der Bereichs- und Abteilungsleitung statt, welcher von beiden Seiten als bereichernd empfunden wird. Unter Einhaltung des Datenschutzes wird die Situation jeder Bewohnerin und jedes Bewohners besprochen, und ich erfahre die Hintergründe der teilweise traurigen Schicksale. Dabei realisiere ich, dass allein schon das Zulassen einer Berührung für viele ein grosser Schritt ist.
Die Wirkung von Shiatsu hat – so die Leitung – die Erwartungen bei weitem übertroffen. Die BewohnerInnen sind gut gelaunt, ausgeglichener und nach den Behandlungen tiefentspannt und gelassen.
3600 Sekunden für René
René ist ein aufgestellter Mann, 57-jährig, der mit Krücken in den Behandlungsraum kommt. Vor gut 35 Jahren hatte er einen schweren Unfall, bei welchem eine Körperseite schwere Verletzungen erlitt und auch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er erzählt, dass er auf der betroffenen Körperseite nicht viel wahrnimmt und ein taubes Gefühl hat. Auch fühlt sich dieser Teil meist kalt an. Bei Bewegungen und leichten muskulären Anstrengungen stellt sich ein Zittern der Arme ein.
Ihm gefallen die Shiatsu Behandlungen sehr und er freut sich jeweils wie ein kleines Kind darauf. So meint er, dass er jede einzelne der 3600 Sekunden, welche ihm gehören, voll und ganz geniessen will. Still und andächtig liegt er auf der Liege. Er kann sich von Anfang an einlassen und entspannen. Zu schlafen erlaubt er sich nicht, er möchte wach bleiben und alles aufnehmen. Schon bald schwärmt er, dass er seinen Körper wahrnehme, z.B. die Füsse, welche er sonst vollkommen vergesse. Auch erzählt er nach ein paar Behandlungen, dass er den Energiefluss auf der mehrfach operierten Körperseite spürt und ihm diese bewusster wird.
Im Austausch mit der Bezugsperson zeigt sich, dass René allgemein sehr geschickt kommuniziert. René erzählt bei jeder Behandlung von seiner Familie. Seine Erzählungen beziehen sich alle auf den Zeitraum vor dem Unfall. Wie auch andere BewohnerInnen hat er praktisch keinen Aussenkontakt mehr. Die Berührungen scheinen ihn an Geborgenheit, Wärme und Familie zu erinnern.
René gibt sich oft fröhlich, im Fröhlichsein bricht er auch mal in Tränen aus, emotional ist er «nahe am Wasser gebaut». Es ist spannend, René zuzuhören, er redet gerne, gibt Weisheiten zum Besten, erzählt von früher. Was die jüngeren Ereignisse betrifft, bleibt jedoch ein Fragezeichen. Dass er zum Beispiel übermütig die Treppen hinuntergestiegen und dabei gestürzt sei oder sich täglich die Füsse massiere, ist eher unwahrscheinlich.
Das Zittern der Arme und Beine hat sich im Laufe der Behandlungen verringert und nach der Behandlung fühlt er sich jeweils wieder «ganz». Die 3600 Sekunden scheinen ihn glücklich zu machen, und er kann die aktuelle Situation annehmen, so wie sie ist.
Dieter’s Geheimnis
Dieter, 50jährig, ist in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen und wurde als Kind oft bestraft wegen seiner Andersartigkeit. Auch Dieter leidet sehr an der sozialen Isolation, er hat keinerlei Bezugspersonen ausserhalb des AWZ und erfährt auch so gut wie keine Körperkontakte. Entsprechend hat er eine geringe Körperwahrnehmung. Dieter kann mit Emotionen seines Umfelds nicht gut umgehen, entweder versteift er sich oder teilt körperlich aus.
Bei ihm fällt auf, dass nur sehr kleine sanfte Bewegungen möglich sind. Es braucht Geduld und neue Berührungsimpulse, um Dieters schwierige körperliche Erfahrungen aufzuwiegen. Der Körper erinnert sich nach ein paar Behandlungen an die zuvor positiv erlebten neuen Eindrücke, und mit der Zeit sind grössere Rotationen möglich. Aus dem ehrfurchtsvollen Schweigen zu Beginn ist ein leises Flüstern geworden, und nach ein paar Behandlungen redet er klar und freundlich. Dieter ist sehr aufmerksam, nimmt jede Berührung wahr und schaut auf, wenn ich die Stellung ändere. Manchmal ist sein Gesicht verkrampft und angespannt, körperliche Schmerzen hat er jedoch keine. Seine Unruhe, seine gelegentlichen Aggressionen und das Rupfen und Beissen sind nach und nach verschwunden. Die Begleitperson nimmt Dieter nach der Behandlung tief entspannt wahr. Sie spürt, dass Dieter so etwas ausstrahlt wie: «Shiatsu ist mein Geheimnis, das gehört mir».
Schlüssel zur erfolgreichen Zusammenarbeit
Dank gegenseitiger Offenheit, Flexibilität und Geduld gestaltet sich die Zusammenarbeit im AWZ erfolgreich. Da in der anfänglichen Probephase die BewohnerInnen klar zu erkennen gegeben hatten, dass sie Shiatsu schätzten, war es für mich wichtig, mir ein Vorwissen zu den BewohnerInnen und ihrem Leben anzueignen. Zu Beginn musste ich etwas insistieren, um einen Austausch mit den Begleitpersonen zustande zu bringen. Solch ein Austausch ist auch wichtig, um sich über die gegenwärtige Situation der verschiedenen Menschen und mögliche Behandlungsziele Klarheit verschaffen zu können.
Für mich ist es eine grosse Freude, mit den BewohnerInnen zu lachen, zu gestikulieren, ihnen liebevoll und von Herzen in vollkommener Akzeptanz zu begegnen. Das Wunderbare ist, dass so vieles an Herzlichkeit und Dankbarkeit zurückkommt. Sie haben oft nicht die Fähigkeit, sich verbal so zu äussern wie Menschen ohne Behinderung. Jedoch spüren sie die Dinge auf der seelischen und körperlichen Ebene und zeigen sich tief berührt.
Brigitte Wehrli, KomplementärTherapeutin mit Branchenzertifikat, Methode Shiatsu, praktiziert in Untersiggenthal und im AWZ Kleindöttingen.
Beitrag im Shiatsu-Heft Ausgabe 15/2022 der Shiatsu Gesellschaft Schweiz